BGH stärkt Mieterrechte: Keine Pflicht mehr zum Facharzt-Attest bei gesundheitlicher Härte

Der Fall: Ein Mieter kämpft gegen die Eigenbedarfskündigung
Im Mittelpunkt des Verfahrens stand ein Berliner Mieter, der seit 2006 in seiner Wohnung lebte. Als seine Vermieterin wegen Eigenbedarfs kündigte, berief sich der Mieter auf die sogenannte Sozialklausel des § 574 BGB. Diese erlaubt es Mietern, der Kündigung zu widersprechen, wenn ein Umzug für sie eine unzumutbare Härte bedeuten würde.
Zur Begründung seiner Härte machte der Mieter erhebliche gesundheitliche Bedenken geltend. Er leide an einer akuten Depression mit Suizidgefahr, so die Diagnose seines Behandlers, eines Psychoanalytikers und Psychotherapeuten nach Heilpraktikergesetz (HPG). Der Mieter legte eine ausführliche Stellungnahme vor, in der konkrete Verschlechterungen seines Gesundheitszustandes durch einen Umzug geschildert wurden.
Die Vorinstanzen: Hohe Anforderungen an den Härtenachweis
Sowohl das Amtsgericht Neukölln als auch das Landgericht Berlin folgten der Argumentation des Mieters nicht. Die Gerichte verlangten ein fachärztliches Attest und wiesen darauf hin, dass ein von einem Psychoanalytiker erstelltes Schreiben nicht ausreiche. Eine drohende Gesundheitsverschlechterung sei nicht ausreichend substantiiert dargelegt. Auch eine spätere Stellungnahme, die Suizidgefahr explizit benannte, wurde vom Landgericht wegen Verspätung abgelehnt.
Der BGH korrigiert: Substanz geht vor Formalien
Der Bundesgerichtshof hob diese Entscheidung auf. In deutlichen Worten stellte der VIII. Zivilsenat klar, dass die Anforderungen an den Härtenachweis nicht überspannt werden dürfen. Zwar sei ein fachärztliches Attest ein bewährtes Mittel, es sei aber „nicht stets“ zwingend erforderlich. Entscheidend sei vielmehr, ob der Mieter seinen Vortrag ausreichend substantiieren könne. Das könne auch mit einer ausführlichen Stellungnahme eines medizinisch qualifizierten Behandlers geschehen, etwa eines Psychoanalytikers oder eines Psychotherapeuten nach dem Heilpraktikergesetz.
Wichtig: Entscheidend sei der konkrete Inhalt der Stellungnahme, sie müsse den Gesundheitszustand, die Diagnose, den bisherigen Therapieverlauf sowie die konkreten Risiken und drohenden Verschlechterungen im Falle eines Umzugs detailliert darstellen.
Mit dieser Entscheidung bekräftigt der BGH, dass Gerichte bei gesundheitlichen Härtegründen eine sorgfältige Gesamtwürdigung des Vortrags vorzunehmen haben. Eine pauschale Ablehnung wegen des Fehlens eines Facharzttitels sei unzulässig.
Auswirkungen: Mehr Rechte für Mieter, mehr Prüfpflicht für Gerichte
Das Urteil bedeutet eine Erleichterung für Mieter, die sich auf gesundheitliche Härten berufen wollen:
- Mieter können nun auch qualifizierte Stellungnahmen von Behandlern vorlegen, die keine Fachärzte sind, etwa von Psychotherapeuten (HPG).
- Wichtig ist die Qualität der Stellungnahme: Sie muss detailliert, nachvollziehbar und bezogen auf das konkrete Krankheitsbild und den Umzugsfall sein.
- Gerichte sind verpflichtet, solche Stellungnahmen ernsthaft zu prüfen und, wenn nötig, ein Sachverständigengutachten einzuholen.
- Vermieter müssen sich auf längere Verfahren und strengere gerichtliche Prüfungen einstellen.
Der BGH erinnert damit auch an die grundrechtliche Dimension des Mieterschutzes: Nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz sind Leben und körperliche Unversehrtheit geschützt, was bei drohenden Gesundheitsgefahren durch einen Umzug besonders sorgfältige Prüfungen erforderlich macht.
Fazit:
Entscheidend ist bei Eigenbedarfskündigungen künftig nicht mehr der Titel des Behandlers, sondern die inhaltliche Qualität seiner Einschätzung. Besonders Mieter mit psychischen Erkrankungen, die oft lange auf einen Facharzttermin warten müssen, profitieren von dieser neuen Rechtsprechung.
Wer von einer Eigenbedarfskündigung betroffen ist, sollte daher frühzeitig eine möglichst ausführliche und präzise Stellungnahme seines behandelnden Therapeuten einholen. Diese sollte nachvollziehbar die Diagnose, den bisherigen Behandlungsverlauf und die konkreten gesundheitlichen Risiken beschreiben, die ein Umzug mit sich bringen würde.
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