BGH: Verkäufer müssen Käufer über versteckte Risiken aktiv aufklären
Im vorliegenden Fall kaufte die Klägerin mehrere Gewerbeeinheiten in einem Gebäudekomplex für 1.525.000 Euro. Der notarielle Kaufvertrag schloss zwar die Sachmängelhaftung aus, enthielt aber Zusicherungen der Verkäuferin, dass keine Sonderumlagen beschlossen seien und keine außergewöhnlichen, durch die Instandhaltungsrücklage ungedeckten Kosten bekannt seien. Während der Vertragsverhandlungen hatte die Verkäuferin der Klägerin Zugang zu einem virtuellen Dokumentenarchiv gewährt, in dem Unterlagen zu der Immobilie bereitgestellt wurden.
Kurz vor dem Notartermin stellte die Verkäuferin weitere Dokumente ein, darunter ein Protokoll einer Eigentümerversammlung vom 1. November 2016. Dieses enthielt Hinweise auf mögliche Kosten für bauliche Maßnahmen am Gemeinschaftseigentum in Höhe von bis zu 50 Millionen Euro, die voraussichtlich durch Sonderumlagen gedeckt werden müssten. Die Klägerin wurde später tatsächlich mit einer entsprechenden Sonderumlage belastet. Sie erklärte daraufhin den Rücktritt vom Kaufvertrag und machte Schadensersatzansprüche geltend.
Die Verkäuferin argumentierte, die Klägerin habe die Möglichkeit gehabt, die Unterlagen im Archiv einzusehen, und sei daher selbst für die Kenntnis dieser Informationen verantwortlich. Das Landgericht und das Oberlandesgericht wiesen die Klage ab. Der BGH hob die Entscheidungen jedoch teilweise auf.
Der BGH stellte klar, dass Verkäufer den Käufer nicht nur theoretisch in die Lage versetzen müssen, sich selbst über relevante Umstände zu informieren. Eine aktive und klare Kommunikation ist erforderlich, wenn die Informationen für den Käufer erheblich sind und nicht ohne Weiteres aus den bereitgestellten Dokumenten erkennbar sind.
Die Aufklärungspflicht des Verkäufers wird durch die Bereitstellung von Informationen in einem Dokumentenarchiv nur dann erfüllt, wenn er berechtigterweise erwarten kann, dass der Käufer die relevanten Informationen erkennt und versteht. Dies hängt von mehreren Faktoren ab:
- Struktur und Umfang der bereitgestellten Unterlagen:
Der Verkäufer muss sicherstellen, dass wesentliche Informationen in den Unterlagen klar benannt und für den Käufer auffindbar sind. Es genügt nicht, eine Vielzahl von Dokumenten wahllos bereitzustellen. Das Protokoll der Eigentümerversammlung vom 1. November 2016 wurde im vorliegenden Fall erst kurz vor dem Notartermin hochgeladen, ohne die Klägerin ausdrücklich darauf hinzuweisen. Der BGH stellte fest, dass die Klägerin dadurch keine realistische Möglichkeit hatte, die Informationen rechtzeitig zu prüfen.
- Zeitliche Komponente:
Wenn neue Dokumente erst wenige Tage vor dem Vertragsabschluss bereitgestellt werden, ist es dem Käufer kaum möglich, deren Inhalt umfassend zu prüfen. Hier hätte die Verkäuferin gesondert auf die wesentlichen Inhalte hinweisen müssen, da die Klägerin nach allgemeinem Geschäftsgebaren nicht damit rechnen musste, kurz vor dem Notartermin weitere relevante Unterlagen zu erhalten.
- Bedeutung der Information:
Die Höhe der drohenden Sonderumlage von bis zu 50 Millionen Euro war von erheblicher Bedeutung für die wirtschaftliche Bewertung des Kaufobjekts durch die Klägerin. Solche Risiken müssen offen und unmissverständlich kommuniziert werden, unabhängig davon, ob sie in den bereitgestellten Unterlagen enthalten sind.
Der BGH stellte ebenfalls fest, dass die Durchführung einer Due-Diligence-Prüfung durch den Käufer die Aufklärungspflichten des Verkäufers nicht automatisch reduziert. Auch wenn Käufer oder deren Berater die bereitgestellten Unterlagen prüfen, bleibt der Verkäufer verpflichtet, auf schwer erkennbare oder potenziell missverständliche Informationen aktiv hinzuweisen. Nur wenn der Verkäufer berechtigterweise davon ausgehen kann, dass der Käufer durch die Prüfung der Unterlagen die relevanten Informationen erkennt, kann eine gesonderte Mitteilung entfallen. Dies war im vorliegenden Fall jedoch nicht gegeben.
Zwar betonte der BGH, dass Käufer verpflichtet sind, sich selbst sorgfältig zu informieren und Rückfragen zu stellen, wenn Unklarheiten bestehen oder die Prüfungszeit nicht ausreicht. Ein etwaiges Mitverschulden des Käufers führt jedoch nicht dazu, dass die Aufklärungspflicht des Verkäufers entfällt. Vielmehr wäre ein Mitverschulden bei der Schadensverteilung im Rahmen von Schadensersatzansprüchen zu berücksichtigen (§ 254 BGB).
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